Sehnsucht (qos)
Einmal wuchs man auf. Ob es leicht war oder schwer, weiß man erst hinterher. Früher war immer jetzt. Bis man eines Tages aufsteht und die Luft schmeckt und Dinge riechen und man kribbelt von innen. Zum ersten Mal weiß man dann: Dinge sind vergangen und werden nicht mehr wiederkommen.
Einmal wuchs man auf.
Wie ging das?
Ich war vier, vier Jahre alt, manchmal habe ich mit meiner Mutter Marienkäfer gesammelt, die wir in Einmachgläser steckten und in den Deckel der Gläser pieksten wir Löcher. Manchmal waren die Käfer schon tot, bevor sie ins Glas kamen, weil meine Mutter so lange Fingernägel hatte, mit denen sie die Marienkäfer zerquetschte. Mein Vater ließ morgens einen Minirest Kaffee in der Tasse, den trank ich heimlich aus, wenn er zur Arbeit aufgebrochen war. Wir hatten in der Küche ein Glas mit roten Kirschen aus Weingummi stehen, die ich „Kirchen“ nannte. Meine Oma kam ab und an vorbei und pellte gekochte Kartoffeln.
Danach das Kribbeln, verlorene Zeit, wohin geht man zurück, wenn alles endete, als alles noch perfekt war?
Man sucht Spiegel, manchmal in Abgründen; Halt, im Absoluten. „Du hast es doch schon längst erkannt, dass es absolute Dinge nicht gibt. Wozu das alles?“, hat A. manchmal zu mir gesagt. Damals noch, als man darüber diskutieren konnte, denn da war auch noch jetzt, ab und zu. Damals habe ich Briefe um die halbe Welt geschleppt, in denen jemand mir die absolute Liebe schwor, für immer und alle Zeiten, jetzt war irgendwie immer und man wusste schon, jetzt ist längst vergangen. Man war wichtig, beschützt, behütet. Schon da fängt sehnen an. Wenn man einmal alles war, ist man es sofort nicht mehr.
Wer sagt, dass es Absolutes nicht gibt? Man schrieb Geschichten, Jesus schrieb in den Sand, Nietzsche fand grüne Gläser und noch immer gab es sie, die Hoffnung.
Es kamen andere, nachdem die Briefe verstaut in einer Schublade lagen. Aber immer, wenn man sie aufzog, wisperte sie Versprechen, die für immer mit Stift auf Papier geschrieben waren, kein Sand weit und breit, kein Sand.
Die Anderen. Immer sucht man etwas, und schon wenn man damit anfängt, weiß man, man wird es nicht finden. Man wird geboren und schon da fängt es an (da weiß man nur noch nichts, wegen dem jetzt) und dann, wenn Zeit Raum bekommt und Konturen und man denken kann, zurück und nach vorne, tut es weh, alles, es tut weh und man sucht und man weiß, man findet doch nichts. Am Ende findet man sich selbst. Und mit dem selbst bleibt man dann. Vielleicht findet man auch noch ein anderes selbst auf dem Weg, das mit einem bleibt.
Mit manchen erinnert man sich mehr, nicht weil sie sich erinnern, sondern gerade, weil sie es nicht tun. Man trifft sie und man erinnert sich an ein Gefühl, das früher da war und sie erinnern sich nicht, oder die Zeit hat zuviel Raum und dann sehnt man sich nach ihnen, während sie neben einem sitzen. Mit A. ist das so. Und mit meiner Oma. Unverbrüchlich, untrennbar, aber die Zeit.
Die Zeit ist der Keil. Die Zeit. Sie rast und rast und sie ist ohne Mitleid. Ungesehen schob sich ein Keil zwischen uns und Zeiten, die wir früher verlachten, werden zu Generationen, die uns voneinander trennen. Bald nicht mehr. Was ich nicht wusste: Nicht der Tod macht Angst, sondern der Weg dahin. Das was mich schützte, entgleitet mir, um sich selbst vorzubereiten und zu schützen. Ich bin zu jung, will ich sagen und weiß, ich habe kein Recht, denn auch sie ist so. Zu alt. Und plötzlich sind wir zu weit weg.
Man sucht, vielleicht einfach nach jemandem, der alles aufhält. Man sucht, vielleicht mehr, wenn man um den Sand weiß und deswegen glaubt, Kirchen versinken irgendwann darin. Aber sonst glaubt man eben nichts.
Man sucht sich selbst und auf dem Weg war man viele Dinge. Am Anfang ein Haus am Meer, in das man flog. Später rote Nägel. Man war irgendwie immer zwei Seiten, eigentlich noch mehr. Ich bin immer noch viele. Und sehne mich nach mehr. Einer, einem, vielen.
Nur dieses eine Gefühl ist intensiver als alle anderen. Manchmal mitten am Tag, ein Blitzschlag. Durch zuviel Schönheit, Schönheit in einem Moment, in einer Geste, im still stehenden Augenblick. Unerträglich und so schön, dass es Tränen in die Augen treibt. Das Gefühl heißt vermutlich Sehnsucht, aber es ist keine bestimmte, sondern eine sich selbst nährende, die alles will und auslaugt. Sie hebt dich hoch, nimmt dich und wirbelt dich, du hast Fieber und dir wird kalt. Und für den winzigsten Bruchteil einer Sekunde wird die Sehnsucht so groß, dass die Welt nachgibt und dir einen kurzen Blick auf die Unendlichkeit gewährt. Dann schließt sich alles und du hast nur noch diese schwelende Ahnung und das kalte Glimmen in dir, du läufst und läufst, wie ein hungerndes Kind, eine Nymphomanin, eine Drogensüchtige, wartest du, deine Sucht stillen zu können.
Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem ich losgeschickt wurde, um eine Reportage über ein Jazzkonzert zu schreiben. Ich war zu früh dran und die kleine Kneipe war noch fast leer gewesen. Das war gut, ich konnte mich sammeln, denn ich hatte keine Ahnung von Jazz. Aber ich hatte ein wenig Ahnung von Menschen. Ich weiß noch, wie ich mich an diesem Abend verliebte. In eine Stimme, eine Vorstellung. Ich war verliebt in das schummerige Licht, ich war verliebt in Bartstoppeln, in wässerige, blaue Augen, die von Alkohol schwammen und in diese Sehnsucht. Dieser Mann, der dort sang, nein, liebte, er war die Sehnsucht. Er war die Angst, dieser bodenlose, graue, schwabbelnde Nebel an meinen Füßen, er lief weg und kam zurück, und immer schwammen diese Augen, manchmal tauchten sie dabei ab, in meine Richtung. Manchmal ist es nicht wichtig, was Sätze am Tag bedeuten, sondern nur, was sie in einem Moment in der Nacht sind. „Dann habe ich mich gefühlt, als hätte ich Hermann Hesse gelesen, als wäre ich von einem Faltboot aus ins Meer gesprungen und hätte jede Frau haben können, die ich wollte.“ Das hat er gesagt, zu mir. Ich habe die Bedeutung verloren, ich weiß nur noch, dass ich nichts davon teilen wollte, nichts zu Papier bringen konnte, nichts von dem, was dort wirklich passiert ist jedenfalls.
Erwachsen werden, bedeutet, keine Kompromisse mehr mit dem Leben einzugehen. Aber dafür mit der Sehnsucht.
Einmal wuchs man auf. Ob es leicht war oder schwer, weiß man erst hinterher. Früher war immer jetzt. Bis man eines Tages aufsteht und die Luft schmeckt und Dinge riechen und man kribbelt von innen. Zum ersten Mal weiß man dann: Dinge sind vergangen und werden nicht mehr wiederkommen.
Einmal wuchs man auf.
Wie ging das?
Ich war vier, vier Jahre alt, manchmal habe ich mit meiner Mutter Marienkäfer gesammelt, die wir in Einmachgläser steckten und in den Deckel der Gläser pieksten wir Löcher. Manchmal waren die Käfer schon tot, bevor sie ins Glas kamen, weil meine Mutter so lange Fingernägel hatte, mit denen sie die Marienkäfer zerquetschte. Mein Vater ließ morgens einen Minirest Kaffee in der Tasse, den trank ich heimlich aus, wenn er zur Arbeit aufgebrochen war. Wir hatten in der Küche ein Glas mit roten Kirschen aus Weingummi stehen, die ich „Kirchen“ nannte. Meine Oma kam ab und an vorbei und pellte gekochte Kartoffeln.
Danach das Kribbeln, verlorene Zeit, wohin geht man zurück, wenn alles endete, als alles noch perfekt war?
Man sucht Spiegel, manchmal in Abgründen; Halt, im Absoluten. „Du hast es doch schon längst erkannt, dass es absolute Dinge nicht gibt. Wozu das alles?“, hat A. manchmal zu mir gesagt. Damals noch, als man darüber diskutieren konnte, denn da war auch noch jetzt, ab und zu. Damals habe ich Briefe um die halbe Welt geschleppt, in denen jemand mir die absolute Liebe schwor, für immer und alle Zeiten, jetzt war irgendwie immer und man wusste schon, jetzt ist längst vergangen. Man war wichtig, beschützt, behütet. Schon da fängt sehnen an. Wenn man einmal alles war, ist man es sofort nicht mehr.
Wer sagt, dass es Absolutes nicht gibt? Man schrieb Geschichten, Jesus schrieb in den Sand, Nietzsche fand grüne Gläser und noch immer gab es sie, die Hoffnung.
Es kamen andere, nachdem die Briefe verstaut in einer Schublade lagen. Aber immer, wenn man sie aufzog, wisperte sie Versprechen, die für immer mit Stift auf Papier geschrieben waren, kein Sand weit und breit, kein Sand.
Die Anderen. Immer sucht man etwas, und schon wenn man damit anfängt, weiß man, man wird es nicht finden. Man wird geboren und schon da fängt es an (da weiß man nur noch nichts, wegen dem jetzt) und dann, wenn Zeit Raum bekommt und Konturen und man denken kann, zurück und nach vorne, tut es weh, alles, es tut weh und man sucht und man weiß, man findet doch nichts. Am Ende findet man sich selbst. Und mit dem selbst bleibt man dann. Vielleicht findet man auch noch ein anderes selbst auf dem Weg, das mit einem bleibt.
Mit manchen erinnert man sich mehr, nicht weil sie sich erinnern, sondern gerade, weil sie es nicht tun. Man trifft sie und man erinnert sich an ein Gefühl, das früher da war und sie erinnern sich nicht, oder die Zeit hat zuviel Raum und dann sehnt man sich nach ihnen, während sie neben einem sitzen. Mit A. ist das so. Und mit meiner Oma. Unverbrüchlich, untrennbar, aber die Zeit.
Die Zeit ist der Keil. Die Zeit. Sie rast und rast und sie ist ohne Mitleid. Ungesehen schob sich ein Keil zwischen uns und Zeiten, die wir früher verlachten, werden zu Generationen, die uns voneinander trennen. Bald nicht mehr. Was ich nicht wusste: Nicht der Tod macht Angst, sondern der Weg dahin. Das was mich schützte, entgleitet mir, um sich selbst vorzubereiten und zu schützen. Ich bin zu jung, will ich sagen und weiß, ich habe kein Recht, denn auch sie ist so. Zu alt. Und plötzlich sind wir zu weit weg.
Man sucht, vielleicht einfach nach jemandem, der alles aufhält. Man sucht, vielleicht mehr, wenn man um den Sand weiß und deswegen glaubt, Kirchen versinken irgendwann darin. Aber sonst glaubt man eben nichts.
Man sucht sich selbst und auf dem Weg war man viele Dinge. Am Anfang ein Haus am Meer, in das man flog. Später rote Nägel. Man war irgendwie immer zwei Seiten, eigentlich noch mehr. Ich bin immer noch viele. Und sehne mich nach mehr. Einer, einem, vielen.
Nur dieses eine Gefühl ist intensiver als alle anderen. Manchmal mitten am Tag, ein Blitzschlag. Durch zuviel Schönheit, Schönheit in einem Moment, in einer Geste, im still stehenden Augenblick. Unerträglich und so schön, dass es Tränen in die Augen treibt. Das Gefühl heißt vermutlich Sehnsucht, aber es ist keine bestimmte, sondern eine sich selbst nährende, die alles will und auslaugt. Sie hebt dich hoch, nimmt dich und wirbelt dich, du hast Fieber und dir wird kalt. Und für den winzigsten Bruchteil einer Sekunde wird die Sehnsucht so groß, dass die Welt nachgibt und dir einen kurzen Blick auf die Unendlichkeit gewährt. Dann schließt sich alles und du hast nur noch diese schwelende Ahnung und das kalte Glimmen in dir, du läufst und läufst, wie ein hungerndes Kind, eine Nymphomanin, eine Drogensüchtige, wartest du, deine Sucht stillen zu können.
Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem ich losgeschickt wurde, um eine Reportage über ein Jazzkonzert zu schreiben. Ich war zu früh dran und die kleine Kneipe war noch fast leer gewesen. Das war gut, ich konnte mich sammeln, denn ich hatte keine Ahnung von Jazz. Aber ich hatte ein wenig Ahnung von Menschen. Ich weiß noch, wie ich mich an diesem Abend verliebte. In eine Stimme, eine Vorstellung. Ich war verliebt in das schummerige Licht, ich war verliebt in Bartstoppeln, in wässerige, blaue Augen, die von Alkohol schwammen und in diese Sehnsucht. Dieser Mann, der dort sang, nein, liebte, er war die Sehnsucht. Er war die Angst, dieser bodenlose, graue, schwabbelnde Nebel an meinen Füßen, er lief weg und kam zurück, und immer schwammen diese Augen, manchmal tauchten sie dabei ab, in meine Richtung. Manchmal ist es nicht wichtig, was Sätze am Tag bedeuten, sondern nur, was sie in einem Moment in der Nacht sind. „Dann habe ich mich gefühlt, als hätte ich Hermann Hesse gelesen, als wäre ich von einem Faltboot aus ins Meer gesprungen und hätte jede Frau haben können, die ich wollte.“ Das hat er gesagt, zu mir. Ich habe die Bedeutung verloren, ich weiß nur noch, dass ich nichts davon teilen wollte, nichts zu Papier bringen konnte, nichts von dem, was dort wirklich passiert ist jedenfalls.
Erwachsen werden, bedeutet, keine Kompromisse mehr mit dem Leben einzugehen. Aber dafür mit der Sehnsucht.
3 Kommentare:
Danke liebe QoS, das werde ich noch viele male lesen...
mein text kommt bald.. bis dahion ein zitat von ernst wilhelm lotz, schon oft gehoert doch immer wieder wert zu hoeren, lesen, fuehlen:
"Wir sind nach Dingen krank, die wir nicht kennen.
Wir sind sehr jung. Und fiebern noch nach Welt.
Wir leuchten leise. - Doch wir könnten brennen.
Wir suchen immer Wind, der uns zu Flammen schwellt."
"Erwachsen werden, bedeutet, keine Kompromisse mehr mit dem Leben einzugehen. Aber dafür mit der Sehnsucht."
Wunderbar!!! Du sprichst mir aus der Seele ;)
Danke! Ich hoffe, das ist ein gutes Zeichen... ;)
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