Dienstag, 26. Juni 2007

Runde 1: Lockenwickler

Tante Jennys Lockenwickler (Sternenstauner)

Schon vor geraumer Zeit hatten Tage wie dieser aufgehört, auf grüne Pappe geschrieben zu sein. Und so waren meine Erwartungen, als ich den kleinen Kramladen am Ende unserer Straße betrat, nicht besonders hoch. Die Sonne schien durch Vorstadtschluchten auf die Bürgersteige der kleinen Männer, die unsre Nachbarschaft bevölkerten, und ich war wieder einmal auf der Suche nach einem Job. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich damals einen Großteil meines Verdienstes beim Würfeln verspielte.
Das Glöckchen über der Tür fing an wie wild zu bimmeln, und eine Wolke vom Staub der vergangen Jahrzehnte erfüllte meine Lungen mit der Intensität einer billigen Zigarre, Marke „Tropenschatz“. Der Sommer war plötzlich hereingebrochen über unsere Stadt und so schien der Staub aufgeheizt zu sein.
„Na mein Sohn.“ sagte die Alte hinter der Kasse, als sich der Staub langsam lichtete. „Was kann ich für dich tun? Willst du wieder Familienschmuck verpfänden?“ Eigentlich wäre ich gekommen, weil ich einen kleinen Nebenverdienst bräuchte.
Und so kam es, dass ich mich wenig später dabei fand, das Gerümpel in der Hinterstube auszumisten. Als mir der Lockenwickler in die Hand fiel, musste ich sofort an Tante Jenny denken. Tante Jenny, die mit den Bäumen reden konnte. Damals, als die Samstage noch auf grüner Pappe geschrieben waren.

Fast 20 Jahre zuvor befand sich meine Karriere wieder einmal auf dem absteigenden Ast. Meine Kollegen mobbten mich und der Abteilungsleiter schob mir mit schöner Regelmäßigkeit die unangenehmsten Aufgaben zu. Selbst den Müll musste ich manchmal sortieren.
Ich ging damals in die dritte Klasse. Und das war kein Kinderspiel. Im Winter Schneebälle im Ranzen, die Bücher aufgeweicht und die mit Tinte geschriebenen Hausaufgaben zur Unkenntlichkeit verflossen. Rohe Eier, die an meinem Hinterkopf aufplatzten. Ständig platte Reifen bei meinem alten Fahrrad. Zeichnungen auf der Toilette. Keine schönen. Um im Sommer fielen mein Klamotten wie zufällig immer wieder ins Schwimmerbecken, wenn ich grade auf der Rutsche war.
Die Samstage aber waren auf grüner Pappe geschrieben. Auf die Samstage freute ich mich. Genau genommen hielten die Samstage mich am Leben. Denn samstags traf ich Tante Jenny.

Eigentlich war Tante Jenny gar nicht wirklich meine Tante. Und eigentlich hieß sie auch gar nicht Jenny. Ich wusste bloß nicht wie sie hieß. Als ich sie zum ersten Mal sah, saß Tante Jenny an einer Bushaltestelle, nur ein paar Blocks von unserer Wohnung entfernt. Sie wusste anscheinend nicht, dass die Haltestelle schon lange nicht mehr angefahren wurde. Oder es war ihr egal. Jedenfalls saß sie dort. In einem zerschlissenen rosa Bademantel. Lockenwickler in den Haaren. Und sie rauchte. Rauchte als gebe es kein morgen.
Unheimlich erschien sie mir. Und als ich an jenem Samstag Morgen im April auf meinem viel zu großen Fahrrad um die Ecke bog, erschreckte ich mich so sehr vor ihrer wirren Gestalt, dass ich beinahe umgekippt wäre. Ich trat in die Pedale wie ein Besessener.

Nachdem ich an den Samstagen darauf immer wieder an der Haltestelle vorbeifuhr, nur um sie zu sehen, winkte sie mich eines Tages zu sich. Für einen Moment hörte mein Herz auf zu schlagen. Aber dann nahm ich allen Mut zusammen, schob mein Rad zu ihr herüber und brachte ein schüchternes „Hallo“ über die Lippen. „Samstage sind auf grüner Pappe geschrieben.“ sagte Tante Jenny.
Da waren wir dann auch schon Freunde. So schnell konnte das gehen, wenn man in der dritten Klasse war. Und ich leistete ihr gerne Gesellschaft, während sie auf diesen Bus wartete, der nie erschien. Nie fragte sie mich nach meinem Namen und auch ich unternahm keinen Versuch herauszufinden wie sie hieß. Aber sie zeigte mir, wie sie mit den Bäumen reden konnte. Natürlich nur mit den Bäumen in der Nähe der Haltestelle.
Meist umarmte sie die große Eiche. Ich konnte nie etwas anderes als ein Seufzen vernehmen. Später aber übersetzte mir Tante Jenny, was die Eiche und die anderen Bäume zu sagen hatten. Gerade die Eiche schien mich erstaunlicher Weise sehr gut zu kennen.
Als ich eines Tages mit einem blauen Auge aus der Schule kam, konnte ich den Samstag einmal mehr gar nicht erwarten. Später saß ich wieder neben Tante Jenny. Die Eiche hatte gesagt, dass ich bald gute Freunde finden würde. Eine Chance würde sich ergeben, die ich ergreifen sollte.

In der Woche darauf hatte ich soeben mein Kapital in ein Eis investiert, Pistazie im Übrigen, und wollte mich auf den Weg zu Tante Jenny machen. Da bogen ein paar Jungs aus meiner Klasse um die Ecke. Unter anderem Lukas, der mir noch zwei Wochen zu vor das blaue Auge verpasst hatte.
Als wäre nichts gewesen legte er beinahe freundschaftlich seinen Arm um meine Schulter. „Zieh doch mit uns ein wenig durch die Nachbarschaft.“ sagte er. Ich zuckte die Schultern und murmelte Zustimmung.
Wenig später bogen wir in die Straße der alten Bushaltestelle ein. Die anderen Jungen sahen Tante Jenny mit ihren Lockenwicklern da sitzen, und mit ihrem zerschlissen Bademantel. Da fingen sie an zu lachen und tanzten um sie herum und riefen Schimpfwörter. Ich auch. Dann schleuderte ich ihr den Rest von meinem Eis ins Gesicht.
Als der Abend schon dämmerte saßen die Jungs und ich am Spielplatz und Lukas legte mir wieder seinen Arm um die Schulter. „Mensch, du bist gar nicht so verkehrt.“ sagte er und irgendwie bildete ich mir ein, dass er auch eine Entschuldigung für das blaue Auge von sich gab.
Ich war glücklich und hatte schon vergessen, dass Tränen aus Tante Jennys Augen liefen, als wir uns lachend davon trollten.
Zwar kam ich noch ab und zu an der Haltestelle vorbei, aber Tante Jenny sollte ich nie wieder sehen.

Daran musste ich denken, als ich die alten Lockenwickler in der Hinterkammer des Kramladens entdeckte. Als ich mich später mit zwanzig Euro in der Tasche durch die Abenddämmerung in Richtung Würfelspiel treiben ließ, blieb mein Blick an einer großen Eiche hängen. Ich umarmte sie um zu erfahren, was aus Tante Jenny geworden war und auch weil ich plötzlich traurig wurde und mich entschuldigen wollte. Aber das einzige Seufzen, das ich hören konnte, war mein eigenes.
Bäume reden nicht. Und Samstage sind nicht auf grüne Pappe geschrieben.

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