Montag, 25. Juni 2007

Runde 1: Lockenwickler

Lockenwickler (qos)

Georg hielt sein Glas fest am Stiel umklammert, als er mit den Beinen den Stuhl leicht zurückschob und sich erhob. Die goldgelbe Flüssigkeit im Kelch warf noch kleine Luftbläschen nach oben, es war teurer französischer Champagner, irgendeine Marke, die sein Schwiegervater ausgesucht hatte und die im letzten Jahr zahlreiche Preise auf internationalen Wettbewerben gewonnen hatte.
Leise räusperte er sich, dann nahm er seinen Dessertlöffel hoch und schlug mit der Spitze sanft an sein Glas. Sofort verstummten die Gäste an seinem Tisch und richteten erwartungsvolle Blicke auf ihn und das Schweigen breitete sich von Tisch zu Tisch aus und erreichte schließlich auch die letzten geladenen Gäste. Georg ließ seinen Blick über die anwesenden Menschen in dem vornehmen Saal des Hotels schweifen. Sein Bruder hatte sich bereits etwas abseits an einen Tisch am anderen Ende des Raums gesetzt, um mit einem Arbeitskollegen ein paar geschäftliche Dinge besprechen zu können und warf ihm nun aufmunternde Blicke zu. Seine Mutter, die schräg gegenüber an seinem Tisch saß hüllte ihn in einen Blick zärtlicher Liebe ein, durch den ihm ganz warm ums Herz wurde. Und dort hinten, an einem Tisch in der Nähe des Saaleingangs… Georg spürte einen kurzen Stich, eine plötzliche Kälte, die seinen Körper durchströmte, fühlte, wie seine Hände kaum noch Gefühl hatten, wie sie anfingen, feucht zu werden und dann ergriff ihn dieses wohlbekannte Gefühl, dass er vielleicht das Glas nicht weiter würde halten können. Er wusste, Gläser zu halten, die einen feinen Stiel hatten, war etwas automatisiert-mechanisches, er spürte den Stiel nicht zwischen seinen Fingern und dieses Nicht-Spüren sandte den irrwitzigen Gedanken an sein Gehirn – oder sandte das Gehirn den Gedanken nicht eher an seinen Körper? – dass er das Glas vielleicht gar nicht hielt. Sobald er damit angefangen hatte, über ein Glas nachzudenken, wurde es schwer, es weiter zu halten. Georg spürte den prüfenden Blick, den die Frau an seiner Seite auf ihn richtete – jene Frau, die er heute geheiratet hatte - und begann mit seiner Rede.

Dort hinten an einem Tisch in der Nähe des Saaleingangs saß eine andere Frau. Als Georg seine Rede begann, sah sie kurz zu Boden, heftete ihre Aufmerksamkeit für einige Sekunden auf einen nicht weiter zu erkennenden Gegenstand, dann erhob sich ihr Kopf in einer fließenden Bewegung, sie zog die Schultern leicht hoch, straffte sie, ihr Kopf fiel in den Nacken, so saß sie da, mit vor der Brust verschränkten Armen, leicht nach hinten gelehnt, der ganze Körper. Auch wenn Georg stand, hatte er das Gefühl, sie blicke nun auf ihn herab aus leicht spöttischen Augen. Ein jäher Schmerz durchfuhr ihn, sie strahlte etwas Verletzliches aus, wie sie da saß und versuchte, Haltung zu bewahren, nicht den anderen, sondern ihm gegenüber, so steif und stolz und schön wie sie nun mit starrem Blick seiner Rede lauschte. Und plötzlich sah er sie, wie er sie an jenem Morgen gesehen hatte.
Georg hatte darauf bestanden, die Nacht vor seiner Hochzeit alleine zu verbringen, in jenem kleinen Gasthaus, in dem er schon seit Jahren ab und an ein paar Nächte verbrachte, wenn die Welt um ihn herum ihm zu hektisch wurde. Idyllisch lag der kleine Hof, dessen Besitzer auch Zimmer vermieteten, an einem See, gesäumt von Wäldern und Koppeln, auf denen Tiere weideten. Das Unterfangen war nicht schwierig durchzusetzen gewesen, seine Frau verbrachte die Nacht im Haus ihrer Eltern und bis auf einige wenige Gäste, die aus dem Ausland angereist waren und in eben jenem Hotel Unterkunft fanden, in dem er nun seine Rede hielt, kamen die Gäste erst zu der kirchlichen Zeremonie, die diesen Nachmittag statt gefunden hatte.

Mit den engsten Freunden hatten sie gestern noch zusammen gesessen und waren dann, noch vor Mitternacht, aufgebrochen. Seine Frau hatte ihn zum Abschied geküsst und ihm mit einem Kichern ins Ohr geflüstert, sie hoffe, die Stille am See erinnere ihn nicht daran, wie schön es war, alleine zu sein. Dann hatten sich ihre Wege getrennt und er hatte sich anerboten, Clara nach Hause zu fahren. Und nun, da sie dort hinten an diesem Tisch saß, sah er sie, wie er sie heute Morgen gesehen hatte, als er von ihr fort ging, um eine andere Frau zu heiraten. Sie hatte an den Küchentisch gelehnt gestanden, eine heiße Tasse Kaffee mit den Händen umschlossen, die Haare aufgedreht auf Lockenwickler. Georg hatte ihr beim Aufdrehen geholfen. Sie hatte nackt vor ihm auf dem Bett gesessen und ihr langes Haar, das ihn an Bronze erinnerte, an oxydierte Bronze, wie er gedacht hatte, als er hinter ihr saß, fiel über ihren Rücken. Strähne um Strähne teilte er ab, nahm einen der großen, grauen Lockenwicklern, die an den Rändern in pink eingefasst waren, wickelte die Strähne sorgfältig darauf und fixierte den Wickler dann am Kopf mit einem kleinen Pin. Leise Musik kam aus dem Radio und er genoss das Unwirkliche der Situation. Keiner von beiden sprach. Dann, als er fertig war, strich er sanft mit den Fingerspitzen über ihren Rücken, aber sie reagierte nicht, gab kein Zeichen, das erkennen ließ, dass sie seine Anwesenheit überhaupt noch wahrnahm. Er stand auf und ging um das Bett herum, bis er vor ihr stand. Mit einem hilflosen Achselzucken wich sie seinem Blick aus und sah zur Decke, Tränen strömten ihre Wangen hinab, ganze Sturzbäche von Tränen, aber kein Geräusch drang aus ihrem Mund, es war eine stille Klage, eine Anklage vielleicht? Aber dann erreichte schon ein Lächeln ihren Mund, sie wischte die Tränen fort und suchte seine Augen, er kniete vor ihr nieder und begrub seinen Kopf an ihrem Hals, die Lockenwickler verfingen sich in seinen eigenen Haaren.

Er sah sie jetzt, während er seine Rede hielt, wie sie in der Küche stand mit ihren Lockenwicklern und mit kalt-klirrender Stimme „Auf Wiedersehen“ sagte und dann, angesichts der Situation, über ihre eigenen Worte lachte, ein unvertrautes Lachen, das hart klang. Er sah sie, wie sie mit diesen riesigen Lockenwicklern auf dem Bett saß, wie die Tränen aus ihre herausschossen und Hilflosigkeit erfasste ihn.

Er war nie in seinem Gästehaus angekommen. Auf halber Strecke wohnte sie, er hatte sie nach Hause gefahren, war ausgestiegen, um ihr die Tür zu öffnen, sie hatten eine Zeit lang am Wagen gelehnt und sich angesehen, sie hatte diesen abwartend-spöttischen Blick gehabt, den er auch eben an ihr wahrgenommen hatte und dann hatte er zu ihr gesagt, sie solle ihn mit hinein nehmen. Ohne ein weiteres Wort hatte sie sich umgewandt, war zur Haustür gegangen, hatte aufgeschlossen und war ins Haus getreten, dann sah sie kurz über ihre Schulter: Er folgte ihr.

Sie schüttete zwei Gläser randvoll mit Martini und reichte ihm eines. „Glaubst du, du kannst es halten?“, fragte sie lachend und er stellte sein Glas ab, zog sie an sich und küsste sie. „Warum heiratest du nicht mich?“, neckte sie sanft an seinem Ohr, aber er ließ sie los, wandte sich ab, nahm sein Glas und trank. Ihre Stimme klang verändert, als sie erneut sprach. „Geh, Georg, du musst gehen.“ Es lag keine Koketterie in diesem Satz, nur Resignation und Müdigkeit. Aber er ging nicht. Er zog sie erneut an sich, nahm ihr Gesicht in seine Hände und sagte: „Ich heirate dich nicht, Clara, weil du meine Schwester bist.“

Er hatte seine Rede beendet, die Gäste applaudierten, er setzte sich wieder und seine Frau griff nach seiner Hand. Im Hinsetzen hatte er seiner Schwester Clara einen Blick zugeworfen, das Licht brach sich in ihrem Haar, der bronzefarbene Schimmer verstärkte sich dadurch, dass sie heute Locken trug. Er zwang sich, nicht mehr an die Lockenwickler zu denken, die er selbst in ihren Haaren befestigt hatte, heute Morgen. „Der See hat mich daran erinnert, wie gerne ich nicht mehr allein wäre“, sagte er zu seiner Frau, die neben ihm saß und lächelte sie an.

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