Samstag, 30. Juni 2007


Hallo sternenstauner,
die Bonner Südstadt ist grau und nur manchmal fällt einem ein, dass der Sommer irgendwo lauert.
Naja, trotzdem irgendwie schön hier.
Bis bald!
qos

Runde 5: Sehnsucht

Sehnsucht (qos)

Einmal wuchs man auf. Ob es leicht war oder schwer, weiß man erst hinterher. Früher war immer jetzt. Bis man eines Tages aufsteht und die Luft schmeckt und Dinge riechen und man kribbelt von innen. Zum ersten Mal weiß man dann: Dinge sind vergangen und werden nicht mehr wiederkommen.
Einmal wuchs man auf.
Wie ging das?
Ich war vier, vier Jahre alt, manchmal habe ich mit meiner Mutter Marienkäfer gesammelt, die wir in Einmachgläser steckten und in den Deckel der Gläser pieksten wir Löcher. Manchmal waren die Käfer schon tot, bevor sie ins Glas kamen, weil meine Mutter so lange Fingernägel hatte, mit denen sie die Marienkäfer zerquetschte. Mein Vater ließ morgens einen Minirest Kaffee in der Tasse, den trank ich heimlich aus, wenn er zur Arbeit aufgebrochen war. Wir hatten in der Küche ein Glas mit roten Kirschen aus Weingummi stehen, die ich „Kirchen“ nannte. Meine Oma kam ab und an vorbei und pellte gekochte Kartoffeln.
Danach das Kribbeln, verlorene Zeit, wohin geht man zurück, wenn alles endete, als alles noch perfekt war?
Man sucht Spiegel, manchmal in Abgründen; Halt, im Absoluten. „Du hast es doch schon längst erkannt, dass es absolute Dinge nicht gibt. Wozu das alles?“, hat A. manchmal zu mir gesagt. Damals noch, als man darüber diskutieren konnte, denn da war auch noch jetzt, ab und zu. Damals habe ich Briefe um die halbe Welt geschleppt, in denen jemand mir die absolute Liebe schwor, für immer und alle Zeiten, jetzt war irgendwie immer und man wusste schon, jetzt ist längst vergangen. Man war wichtig, beschützt, behütet. Schon da fängt sehnen an. Wenn man einmal alles war, ist man es sofort nicht mehr.
Wer sagt, dass es Absolutes nicht gibt? Man schrieb Geschichten, Jesus schrieb in den Sand, Nietzsche fand grüne Gläser und noch immer gab es sie, die Hoffnung.
Es kamen andere, nachdem die Briefe verstaut in einer Schublade lagen. Aber immer, wenn man sie aufzog, wisperte sie Versprechen, die für immer mit Stift auf Papier geschrieben waren, kein Sand weit und breit, kein Sand.
Die Anderen. Immer sucht man etwas, und schon wenn man damit anfängt, weiß man, man wird es nicht finden. Man wird geboren und schon da fängt es an (da weiß man nur noch nichts, wegen dem jetzt) und dann, wenn Zeit Raum bekommt und Konturen und man denken kann, zurück und nach vorne, tut es weh, alles, es tut weh und man sucht und man weiß, man findet doch nichts. Am Ende findet man sich selbst. Und mit dem selbst bleibt man dann. Vielleicht findet man auch noch ein anderes selbst auf dem Weg, das mit einem bleibt.
Mit manchen erinnert man sich mehr, nicht weil sie sich erinnern, sondern gerade, weil sie es nicht tun. Man trifft sie und man erinnert sich an ein Gefühl, das früher da war und sie erinnern sich nicht, oder die Zeit hat zuviel Raum und dann sehnt man sich nach ihnen, während sie neben einem sitzen. Mit A. ist das so. Und mit meiner Oma. Unverbrüchlich, untrennbar, aber die Zeit.
Die Zeit ist der Keil. Die Zeit. Sie rast und rast und sie ist ohne Mitleid. Ungesehen schob sich ein Keil zwischen uns und Zeiten, die wir früher verlachten, werden zu Generationen, die uns voneinander trennen. Bald nicht mehr. Was ich nicht wusste: Nicht der Tod macht Angst, sondern der Weg dahin. Das was mich schützte, entgleitet mir, um sich selbst vorzubereiten und zu schützen. Ich bin zu jung, will ich sagen und weiß, ich habe kein Recht, denn auch sie ist so. Zu alt. Und plötzlich sind wir zu weit weg.
Man sucht, vielleicht einfach nach jemandem, der alles aufhält. Man sucht, vielleicht mehr, wenn man um den Sand weiß und deswegen glaubt, Kirchen versinken irgendwann darin. Aber sonst glaubt man eben nichts.
Man sucht sich selbst und auf dem Weg war man viele Dinge. Am Anfang ein Haus am Meer, in das man flog. Später rote Nägel. Man war irgendwie immer zwei Seiten, eigentlich noch mehr. Ich bin immer noch viele. Und sehne mich nach mehr. Einer, einem, vielen.
Nur dieses eine Gefühl ist intensiver als alle anderen. Manchmal mitten am Tag, ein Blitzschlag. Durch zuviel Schönheit, Schönheit in einem Moment, in einer Geste, im still stehenden Augenblick. Unerträglich und so schön, dass es Tränen in die Augen treibt. Das Gefühl heißt vermutlich Sehnsucht, aber es ist keine bestimmte, sondern eine sich selbst nährende, die alles will und auslaugt. Sie hebt dich hoch, nimmt dich und wirbelt dich, du hast Fieber und dir wird kalt. Und für den winzigsten Bruchteil einer Sekunde wird die Sehnsucht so groß, dass die Welt nachgibt und dir einen kurzen Blick auf die Unendlichkeit gewährt. Dann schließt sich alles und du hast nur noch diese schwelende Ahnung und das kalte Glimmen in dir, du läufst und läufst, wie ein hungerndes Kind, eine Nymphomanin, eine Drogensüchtige, wartest du, deine Sucht stillen zu können.
Ich erinnere mich noch gut an den Abend, an dem ich losgeschickt wurde, um eine Reportage über ein Jazzkonzert zu schreiben. Ich war zu früh dran und die kleine Kneipe war noch fast leer gewesen. Das war gut, ich konnte mich sammeln, denn ich hatte keine Ahnung von Jazz. Aber ich hatte ein wenig Ahnung von Menschen. Ich weiß noch, wie ich mich an diesem Abend verliebte. In eine Stimme, eine Vorstellung. Ich war verliebt in das schummerige Licht, ich war verliebt in Bartstoppeln, in wässerige, blaue Augen, die von Alkohol schwammen und in diese Sehnsucht. Dieser Mann, der dort sang, nein, liebte, er war die Sehnsucht. Er war die Angst, dieser bodenlose, graue, schwabbelnde Nebel an meinen Füßen, er lief weg und kam zurück, und immer schwammen diese Augen, manchmal tauchten sie dabei ab, in meine Richtung. Manchmal ist es nicht wichtig, was Sätze am Tag bedeuten, sondern nur, was sie in einem Moment in der Nacht sind. „Dann habe ich mich gefühlt, als hätte ich Hermann Hesse gelesen, als wäre ich von einem Faltboot aus ins Meer gesprungen und hätte jede Frau haben können, die ich wollte.“ Das hat er gesagt, zu mir. Ich habe die Bedeutung verloren, ich weiß nur noch, dass ich nichts davon teilen wollte, nichts zu Papier bringen konnte, nichts von dem, was dort wirklich passiert ist jedenfalls.

Erwachsen werden, bedeutet, keine Kompromisse mehr mit dem Leben einzugehen. Aber dafür mit der Sehnsucht.



Dienstag, 26. Juni 2007

Runde 4: Cornflakes

Von einem, den sie Cornflakes nennen (Sternenstauner)

-1-

Hey, was geht? Mein Name ist Cornflakes und ich weiß das ist ein ziemlich bescheuerter Name in meinem Business, aber was soll man machen. Wenn du dich einmal unter einem Namen etabliert hast, dann gibst du ihn so leicht nicht wieder auf.

Einmal hatte ich eine Kundin, die nannte sich Milch, kam sich wohl einfallsreich vor, die alte Schlampe. Aber als sie nicht bezahlen wollte, da bin ich dennoch nicht weich geworden. So einer bin ich nicht. Also um es kurz zu machen, aber vielleicht haben sie dass ja auch schon erraten, ich bin Privatdetektiv. Schnüffler vielmehr. Denn was ich mache, ist in anderer Leute schmutziger Wäsche zu wühlen. Ehebruch meist, oder Sucht. Das sind die Dinge mit denen ich mein Geld verdiene. Und nach getaner Arbeit geh ich mir meist einen Saufen. In der Spelunke neben an. Muss ja irgendwie damit klar kommen, dass ich ab und an ne Ehe scheitern lasse. Aber die Leute wollen ja Ergebnisse sehn. Also, Mann, was soll ich denn Machen. Geld wächst nun mal nicht auf Bäumen, und da muss man den Dingen schon manchmal nachhelfen. Ich hab da nämlich so eine ganz gute Verbindung mit einer, die für Geld fast alles macht. Die schick ich dann meist dem ahnungslosen Typen auf den Hals. Und ich drück auf den Auslöser und Zack: erwischt! Paar Tage später gibt es dann auch schon das Geld, sonst schick ich halt mal die schweren Jungs vorbei, oder? Da kenn ich dann auch nix.

Viele Freunde habe ich, es wird euch kaum wundern, nicht. Wenn ich bezahlt wurde, dann geh ich meist bei der vorbei, die für Geld fast alles macht, und wir machen einen drauf. Manchmal ist schon nen anderer bei ihr, dann geh ich mit meinem Geld in so einen Pornoschuppen, hol mir einen runter und dann geh ich in die Spelunke. Jetzt denkt bloß nicht, dass ich oberflächlich sei, oder so. Ich habe nämlich auch die Klassiker gelesen. Hier: Sarte und so. Marx und die ganze Bagage. Sogar mal Paulo Coelo, den Vater aller Gutmenschen. Nur beeindrucken lass ich mich nicht von dem ganzen Scheiß. Ich hab das Leben nämlich schon vor langem als unbarmherzige Realität akzeptiert. Von dem ganzen träume-dein-Leben-Gesülze, da hab ich die Schnauze mal gestrichen voll. Ist doch so: du fängst an dir was aufzubauen, oder du denkst deine Alte liebt dich. Und eh du es dich versiehst, zieht sie mit nem anderen ab, nur weil der Mercedes fährt. Klar würde sie das niemals zugeben, aber innere Werte oder so konnte ich bei dem Spaten ja nun mal nicht erkennen. Und was bleibt dir dann? Die Kneipe, die Pornos, der Suff... und ne Ladung Asperin zum aufstehen. Nee, also mir macht keiner mehr was vor. Das Leben ist ne Schlampe, die dir nur wehtut. Und deshalb scheiß ich auf so einiges. Nur damit ihr wisst mit wem ihr es hier zu tun habt.

- Fortsetzung folgt -

Runde 3: Zug

Fragmente meiner selbst (Sternenstauner)

In einem Zug nach irgendwo sitzend, starre ich in mein blasses Spiegelbild, durch mein blasses Spiegelbild, durch die Scheibe, durch den Regen, durch die Landschaft, das Land, die Welt. Wie Staubkörner an einem sonnigen Tag auf einem alten Speicher hängen Erinnerungen, Teile von mir, in der Luft. Zum greifen nah und doch unwiederbringlich schon gelebt.

In einem Zug fahren wir nach Köln, in der Hand die zweite Flasche Kölsch. Im Kopf der Qualm der dritten Tüte. Wir sind noch jung und auf der Suche. Und Lachflashs brennen sich in Wangenmuskeln ein.

Bahrain Airport - Buntes Völkergemisch. Meltingpot für Minuten. Zwischenwelt.

Schallend lachen wir auf dieser Fahrt mit dem Auto nach Prag und immer wieder singen wir dasselbe Lied. Das das Radio kaputt ist tut keinem weh. Hinfahrt - Rückfahrt - egal. Kostbarer Moment in dieser Leichtigkeit.

An meinen Füßen ausgelatschte Flipflops und im Geist die Leichtigkeit siamesischer Träume, gepaart mit der süßen Schwere der Legenden vom Strand. Das Licht in diesem mit nach Antworten suchenden Touristen gefüllten, überfüllten, voll gestopftem Bus ist aus und so trifft mein Blick nicht den meiner Augen sondern gleitet weiter in die Endlosschleife der thailändischen Nacht auf dem Highway nach Süden.

Nach Süden fahren wir diesen Sommer, in meinem Auto, und bevor der Morgen graut haben wir Zelt, Kocher und ein paar Ideen von Freiheit unterwegs im Kofferraum verstaut. Und noch vor Tagesanbruch und vor Frankfurt schmecken wir in einem kurzen Moment den bitteren Beigeschmack der Straße.

Während ich in der Abflughalle sitze um mich herum Leute. Von überall. Wie es wohl wäre sich mit ihnen zu unterhalten? Nur einfach eine Frage zu stellen. Kein wo-kommst-du-her-wo-gehst-du-hin-blabla. Eine Frage die tiefer geht. Die interessanter ist. Selbst wenn ich diese Frage kennen würde, stellen täte ich sie kaum. Und so sitzen Welten beieinander. Und kollidieren nicht.

In einem Zug fahren wir in die Berge und die Baseballkappe und die kurzen Hosen und meine Hand auf dem Kopf meiner Schwester und die Sommersonne im Nacken geben mir dieses Müsliriegelsommerausflugsgefühl das vielleicht Momente später durch Geschrei und Tränen unterbrochen wird.

Andere Tränen, diesmal meine, pochen hinter den Augen als ich im Flugzeug von Saigon sitze. Das alles doch gut wird, zumindest diesmal, weiß ich noch nicht.

In einem Zug fahren wir nach Osten ans Meer. Die Blumen der Pubertät in meinem Gesicht sind kaum verblüht und die Unsicherheit vergangener Tage wird noch lange weiter an mir hängen bis ich Jahre später aus dem grünen Qualm erwache.

Das ist halt immer die Sache, dass Leute tief in deinem Herzen sind, wenn die Welt sich dreht. Der Preis eben für das große Abenteuer, das Leben on the move, die Restlessness, das stetige getrieben sein. Zu neuen Ufern. Zu alten Ufern. Ausufern des täglichen Wahnsinns. Wenn Bewegung so sehr zum Sinn wird, dass sie schon keinen Sinn mehr macht. Aber wäre ein jeder Unschritt nicht Verrat? Oder ist dieses Selbstbild bloß die Projektion der Angst nichts Bedeutendes zum machen? Nichts zu bedeuten?

Lepuh Chulia, Lepuh Chulia, Lepuh Chulia, Lepuh Chulia. Ein Mantra. Mein Mantra für Sekunden.

Der öffentliche Nahverkehr in Kuala Lumpur ist kalt. Aus dem Fenster sehe ich die Zwillingstürme. Elektronische Beats in meinem Ohr machen mich glücklich in diesem Moment. Auch wenn ich manches Mal nicht weiß was ich hier mache und wohin das alles wohl führt.

In einem Zug nach irgendwo sitzend starre ich in mein blasses Spiegelbild, durch mein blasses Spiegelbild, durch die Scheibe, durch den Regen, durch die Landschaft, das Land, die Welt. Wie Staubkörner an einem sonnigen Tag auf einem alten Speicher hängen Erinnerungen, Teile von mir, in der Luft. Zum greifen nah und doch unwiederbringlich schon gelebt.

Runde 2: Sturm

Zeitlose Saat (Sternenstauner)

Wie wahllos über das Land geschüttete Bauklötze liegen die vergessenen Vororte der namenlosen Städte da. Staubbedeckt der graue Himmel. Der Sturm fegt über die Ebenen. Tag und Nacht sind zu einer klebrigen Masse verschwommen.

Nicht dass es einen Unterschied machen würde. Wir erwähnen das nur, damit Sie sich ein Vorstellung von der Lage machen können. Nicht dass wir überhaupt Tag und Nacht jemals erlebt hätten. Eigentlich alles was wir wissen, stammt aus den Archiven der Alten. Sie sammelten damals das Wissen. Dann machten sie sich den Planeten endgültig Untertan.

Etwa zu der Zeit als die radioaktiven Strahlen der früheren Bomben dafür sorgten, dass fast alles Organische schneller zerfiel als es sich reproduzieren konnte, gelang ein paar von ihnen der ersehnte Schritt. Sie trennten Körper und Geist endgültig voneinander, in dem sie Duplikate ihrer Hirnströmungen auf einen der großen Server spielten.

In den tief liegenden Farmen entstanden Kopien von Kopien von Kopien von Kopien von Kopien von Kopien von Kopien von Kopien von Kopien von Kopien von Kopien von Kopien von Kopien. Das sind wir.

Entschuldigen Sie uns jetzt bitte, den wir haben noch etwas zu tun. Wir müssen uns bündeln, um einige Magneten zu aktivieren. Mit Hilfe von Elektromagneten erzeugen wir nämlich extraterrestrische Sonnenwinde. Diese werden beim Eintritt in die Atmosphäre zu Sturm. Der Sturm treibt riesige Windräder an die Energie erzeugen. Genug damit das Netz nie aufhört zu sein.

Das ist es was wir hauptsächlich machen. Wind säen und Sturm ernten. Es hat uns sehr gefreut, Ihnen dies mitteilen zu dürfen.

Runde 1: Lockenwickler

Tante Jennys Lockenwickler (Sternenstauner)

Schon vor geraumer Zeit hatten Tage wie dieser aufgehört, auf grüne Pappe geschrieben zu sein. Und so waren meine Erwartungen, als ich den kleinen Kramladen am Ende unserer Straße betrat, nicht besonders hoch. Die Sonne schien durch Vorstadtschluchten auf die Bürgersteige der kleinen Männer, die unsre Nachbarschaft bevölkerten, und ich war wieder einmal auf der Suche nach einem Job. Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich damals einen Großteil meines Verdienstes beim Würfeln verspielte.
Das Glöckchen über der Tür fing an wie wild zu bimmeln, und eine Wolke vom Staub der vergangen Jahrzehnte erfüllte meine Lungen mit der Intensität einer billigen Zigarre, Marke „Tropenschatz“. Der Sommer war plötzlich hereingebrochen über unsere Stadt und so schien der Staub aufgeheizt zu sein.
„Na mein Sohn.“ sagte die Alte hinter der Kasse, als sich der Staub langsam lichtete. „Was kann ich für dich tun? Willst du wieder Familienschmuck verpfänden?“ Eigentlich wäre ich gekommen, weil ich einen kleinen Nebenverdienst bräuchte.
Und so kam es, dass ich mich wenig später dabei fand, das Gerümpel in der Hinterstube auszumisten. Als mir der Lockenwickler in die Hand fiel, musste ich sofort an Tante Jenny denken. Tante Jenny, die mit den Bäumen reden konnte. Damals, als die Samstage noch auf grüner Pappe geschrieben waren.

Fast 20 Jahre zuvor befand sich meine Karriere wieder einmal auf dem absteigenden Ast. Meine Kollegen mobbten mich und der Abteilungsleiter schob mir mit schöner Regelmäßigkeit die unangenehmsten Aufgaben zu. Selbst den Müll musste ich manchmal sortieren.
Ich ging damals in die dritte Klasse. Und das war kein Kinderspiel. Im Winter Schneebälle im Ranzen, die Bücher aufgeweicht und die mit Tinte geschriebenen Hausaufgaben zur Unkenntlichkeit verflossen. Rohe Eier, die an meinem Hinterkopf aufplatzten. Ständig platte Reifen bei meinem alten Fahrrad. Zeichnungen auf der Toilette. Keine schönen. Um im Sommer fielen mein Klamotten wie zufällig immer wieder ins Schwimmerbecken, wenn ich grade auf der Rutsche war.
Die Samstage aber waren auf grüner Pappe geschrieben. Auf die Samstage freute ich mich. Genau genommen hielten die Samstage mich am Leben. Denn samstags traf ich Tante Jenny.

Eigentlich war Tante Jenny gar nicht wirklich meine Tante. Und eigentlich hieß sie auch gar nicht Jenny. Ich wusste bloß nicht wie sie hieß. Als ich sie zum ersten Mal sah, saß Tante Jenny an einer Bushaltestelle, nur ein paar Blocks von unserer Wohnung entfernt. Sie wusste anscheinend nicht, dass die Haltestelle schon lange nicht mehr angefahren wurde. Oder es war ihr egal. Jedenfalls saß sie dort. In einem zerschlissenen rosa Bademantel. Lockenwickler in den Haaren. Und sie rauchte. Rauchte als gebe es kein morgen.
Unheimlich erschien sie mir. Und als ich an jenem Samstag Morgen im April auf meinem viel zu großen Fahrrad um die Ecke bog, erschreckte ich mich so sehr vor ihrer wirren Gestalt, dass ich beinahe umgekippt wäre. Ich trat in die Pedale wie ein Besessener.

Nachdem ich an den Samstagen darauf immer wieder an der Haltestelle vorbeifuhr, nur um sie zu sehen, winkte sie mich eines Tages zu sich. Für einen Moment hörte mein Herz auf zu schlagen. Aber dann nahm ich allen Mut zusammen, schob mein Rad zu ihr herüber und brachte ein schüchternes „Hallo“ über die Lippen. „Samstage sind auf grüner Pappe geschrieben.“ sagte Tante Jenny.
Da waren wir dann auch schon Freunde. So schnell konnte das gehen, wenn man in der dritten Klasse war. Und ich leistete ihr gerne Gesellschaft, während sie auf diesen Bus wartete, der nie erschien. Nie fragte sie mich nach meinem Namen und auch ich unternahm keinen Versuch herauszufinden wie sie hieß. Aber sie zeigte mir, wie sie mit den Bäumen reden konnte. Natürlich nur mit den Bäumen in der Nähe der Haltestelle.
Meist umarmte sie die große Eiche. Ich konnte nie etwas anderes als ein Seufzen vernehmen. Später aber übersetzte mir Tante Jenny, was die Eiche und die anderen Bäume zu sagen hatten. Gerade die Eiche schien mich erstaunlicher Weise sehr gut zu kennen.
Als ich eines Tages mit einem blauen Auge aus der Schule kam, konnte ich den Samstag einmal mehr gar nicht erwarten. Später saß ich wieder neben Tante Jenny. Die Eiche hatte gesagt, dass ich bald gute Freunde finden würde. Eine Chance würde sich ergeben, die ich ergreifen sollte.

In der Woche darauf hatte ich soeben mein Kapital in ein Eis investiert, Pistazie im Übrigen, und wollte mich auf den Weg zu Tante Jenny machen. Da bogen ein paar Jungs aus meiner Klasse um die Ecke. Unter anderem Lukas, der mir noch zwei Wochen zu vor das blaue Auge verpasst hatte.
Als wäre nichts gewesen legte er beinahe freundschaftlich seinen Arm um meine Schulter. „Zieh doch mit uns ein wenig durch die Nachbarschaft.“ sagte er. Ich zuckte die Schultern und murmelte Zustimmung.
Wenig später bogen wir in die Straße der alten Bushaltestelle ein. Die anderen Jungen sahen Tante Jenny mit ihren Lockenwicklern da sitzen, und mit ihrem zerschlissen Bademantel. Da fingen sie an zu lachen und tanzten um sie herum und riefen Schimpfwörter. Ich auch. Dann schleuderte ich ihr den Rest von meinem Eis ins Gesicht.
Als der Abend schon dämmerte saßen die Jungs und ich am Spielplatz und Lukas legte mir wieder seinen Arm um die Schulter. „Mensch, du bist gar nicht so verkehrt.“ sagte er und irgendwie bildete ich mir ein, dass er auch eine Entschuldigung für das blaue Auge von sich gab.
Ich war glücklich und hatte schon vergessen, dass Tränen aus Tante Jennys Augen liefen, als wir uns lachend davon trollten.
Zwar kam ich noch ab und zu an der Haltestelle vorbei, aber Tante Jenny sollte ich nie wieder sehen.

Daran musste ich denken, als ich die alten Lockenwickler in der Hinterkammer des Kramladens entdeckte. Als ich mich später mit zwanzig Euro in der Tasche durch die Abenddämmerung in Richtung Würfelspiel treiben ließ, blieb mein Blick an einer großen Eiche hängen. Ich umarmte sie um zu erfahren, was aus Tante Jenny geworden war und auch weil ich plötzlich traurig wurde und mich entschuldigen wollte. Aber das einzige Seufzen, das ich hören konnte, war mein eigenes.
Bäume reden nicht. Und Samstage sind nicht auf grüne Pappe geschrieben.

Montag, 25. Juni 2007

Runde 4: Cornflakes

Cornflakes oder Die Hure Babylon (qos)

Manchmal gibt es diese Tage: Du stehst auf und dir scheint die Sonne aus dem Arsch. Direkt nach dem Aufwachen kommt dir alles richtig vor und die Welt jung und warm und Vögel zwitschern.
Meistens ist es anders. Man trinkt zu viel oder gar nicht, man schläft schlecht, man denkt viel Wichtiges, nachts, oder nichts. Man wacht auf und muss weitermachen. Lesen, schreiben, arbeiten.
Ein Frühstück wäre gut. Die Süddeutsche liegt seit Neustem jeden Morgen auch in meinem Briefkasten. Ein Frühstück, irgendwo anders, nicht bei sich, damit man anonym sein kann mit der Welt.
Man zieht etwas an, das nett aussieht, was sieht nett aus, nein, man zieht etwas an, das aussieht, als würde man nicht sprechen wollen, das ein bisschen wütend ist, aber nicht zu sehr, ein modisches Statement, aber kein Lebensentwurf. Ein schwarzes Top etwa, mit schwarzem Schmuck, eine Blue Jeans, schwarze Stiefel, aber dann: ungeschminkt, keine schwarzen Nägel, keine Totschlagaccessoires. Man geht hinaus, schließt die Tür, läuft Treppen hinunter, stoppt an der Ampel, geht los, ins Café.
Dort sitzt man dann. Man frühstückt, liest Zeitung. Man isst natürlich etwas, das man zu Hause nicht hat und hat man alles, dann eben: Cornflakes.

Das bestelle ich und es ist dumm, Cornflakes in einem Café zu essen. Aber mir scheint eben auch nicht die Sonne aus dem Arsch und deswegen beiße ich nicht in deutsch schmeckende französische Croissants, die ich mit Himbeermarmelade aus kleinen Plastikbecherchen voll schmiere, die nur noch mehr Abfall auf dem Müllhaufen unserer Nation bedeuten würden. Nein, ich esse Cornflakes. Harmlos aussehende, goldfarbene Flakes, die in Milch schwimmen. Ich hasse Milch, sie wird mir nur erträglich, wenn sie gesüßt wird, durch Zucker, der an Flakes klebt etwa.
Ich löffele Cornflakes, das ist natürlich immer schwierig, mit den Händen arbeiten und gleichzeitig Süddeutsche lesen zu wollen. Meine hat darum immer ganz viele Knicke, ich knicke das Papier um einen großen Artikel herum, dann muss ich nichts mehr bewegen beim Essen.

Ich löffele, lese, denke. Denke, was wohl die anderen denken, wenn sie mich hier Cornflakes löffeln sehen, in meinem schwarz gewandeten Modestatement. Denke, huhu, die Welt ist wach, total und alle sind glücklich. Ach, ich vergaß zu erwähnen: Es ist Frühling. Die Schlampe ist raus gekrochen und überall sprießen Blumen und Blätter und Bienchen summen und alle packen Röcke und Kleider aus und starten in ein neues Balzritual, das natürlich nur die große Liebe sein kann.

Nun denn. Cornflakes. Schmecken kacke, sobald sie drei Minuten mit Milch in Berührung gekommen sind. Man könnte sein Frühstück mit Cornflakes starten und sobald man die Flakes in die Milch gibt, setzt man Eier auf. Die kann man dann essen, wenn die Cornflakes anfangen, kacke zu schmecken. Ziemliche Geldverschwendung, Cornflakes zu bestellen. Genauso wie Martini, nachdem man schon zu viel Bier hatte. Oder so.

Ich hätte gerne einen Hund. Nur, um des Namens Willen. Die Hure Babylon würde ich ihn nennen. Ob es eine Rufnamenabkürzung gibt, müsste dann noch geklärt werden. Der könnte dann die Cornflakespampe essen, die nach 10 Minuten anfängt, am Teller zu kleben. Man könnte auch sein Mittagessen mit Cornflakes starten und sobald man die Flakes in die Milch gibt, setzt man Nudeln auf. Die sind dann fertig, wenn die Cornflakes am Teller kleben. Pesto drauf, essen.

Die Süddeutsche ist auch nicht mehr das, was sie war, als man sie noch nicht abonniert hatte. Heimlich gelesene Streiflichter auf fremden Küchentischen, nachdem man morgens in fremden Betten aufwachte. One-Night-Stands lohnten sich allein deswegen. Jetzt hat man den Salat. Ein Konglomerat von Schreckensgeschichten. Soviel wollte man eventuell gar nicht wissen, über die Welt. Und jetzt sind One-Night-Stands meist nur schlechter Sex und Mundgeruch am nächsten Morgen. Das Streiflicht hat man ja dann selbst zu Hause. Manchmal schaffe ich es, das Gesprächsthema am Abend vorher auf Tageszeitungen zu lenken. Und irgendwie bin ich immer ein bisschen dankbar, wenn ich bei einem FAZ-Abonnenten lande. Auch wenn ich weiß, dass ich mit so einem früher nie ins Bett gegangen wäre.

Auch das geht: Man liest sich fest an Seite Drei, vergisst die Cornflakes, und wenn das Ganze in einem Zustand zwischen Drei- und Zehn-Minuten-Matsche ist, erinnert man sich wieder, weil sich Seite Drei auch irgendwo dazwischen befindet und dann nimmt man Seite Drei, wischt die Cornflakes-Schüssel damit aus und schmeißt das Ganze weg.

Wenn ich meinen Hund Die Hure Babylon nenne und er auf einer Wiese davon sprintet, müsste ich ihn wohl Babylon rufen. Die Hure Babylon kann man etwas ja nicht rufen, höchstens: Du Hure Babylon. Das wäre ja aber auch blöd, weil es sich immer so anhören würde, als wäre ich wütend auf den Hund. Gleiches gilt, wenn man den Hund einfach Hure nennen würde. Babylon ist ein langweiliger Name für einen Hund. Man könnte ihn Cornflakes nennen. Und gucken, was passiert, wenn man ihn drei bis zehn Minuten in Milch legt. Und was er mit der Zeitung macht.

Runde 2: Sturm

2045 (qos)
Die Flure des Hotels lagen still und verlassen da. Die beigefarbenen Tapeten lösten sich an einigen Stellen bereits von den Wänden, an den grün gestrichenen Türen wurde das Holz wieder sichtbar. Der ausgemergelte Teppich zeigte zahlreiche Abnutzungsspuren, vor einigen Zimmertüren waren nur mehr einige Fasern des olivfarbenen Stoffes sichtbar geblieben. Durch die verlassenen Gänge ging eine junge Frau. Sorgfältig setzte sie einen Fuß vor den anderen, langsam, sehr langsam, ab und zu stützte sie sich mit ihrem rechten Arm an den Wänden ab. Ihren linken Arm hielt sie schützend an ihren Körper gepresst. Beobachtete man die Frau genauer, konnte man erkennen, dass sie betrunken war. Ihr Haar hing ihr zerzaust ins Gesicht, so als sei sie eben erst aufgestanden. Aus einer ihrer Hosentaschen baumelte ein Teil des Zimmerschlüssels. Die Augen der Frau waren angestrengt aufgerissen und sie fixierte einen Punkt am Ende des Flurs. Plötzlich hielt sie inne, ihr rechter Fuß verharrte in der Bewegung und sie wandte den Kopf langsam nach rechts. Sie hatte die Etagentür erreicht, über die sie ins Treppenhaus des Hotels gelangen konnte. Unsicher tastete ihre Hand nach dem Griff der Tür, sie fand Halt und drückte die Tür auf. Langsam setzte sie ihren Weg ins Treppenhaus fort. Ein Blitz warf helles Licht durchs Fenster und strahlte die Stufen an. Das Donnergrollen war gerade erst verklungen. Draußen tobte ein Sturm. Verwirrt blieb die Frau einen Moment am Absatz der Treppe stehen, dann griff ihre Linke nach dem Treppengeländer und sie stieg langsam die Stufen hinab. Nach jeder Stufe machte sie eine kurze Pause, ihre Hand griff ein Stück weiter unter nach dem Geländer und so zog sie sich Stück für Stück voran. Ihr Mund fing an, sich lautlos zu bewegen, sie formte Worte, ihre Stimme kam schließlich stoßweise, fremd erst hörte sich ihr Gemurmel an, dann jedoch sprudelten Satzfetzen aus ihr heraus. Der Regen klatschte in lauten Wellen gegen das Haus und rann in Bächen an den Fenstern hinunter. Wieder erhellte ein Blitz das Treppenhaus. Die Hand der Frau umklammerte das Treppengeländer so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Ihr schmaler, dünner Arm sah in dem grellen Licht gespenstisch aus. Kurzzeitig wurden blaue Flecken darauf sichtbar, auch an ihrem Kinn zeigte sich eine Prellung, die begonnen hatte, blau anzulaufen. Die Frau flüsterte jetzt nur noch, wie zu einem verängstigten Kind sprach sie zu sich selbst. Sie zuckte kurz zusammen, als es draußen erneut donnerte, dann ging sie weiter, Schritt um Schritt, bis sie schließlich im Erdgeschoss angekommen war. Gerade als sie die letzte Treppenstufe erreicht hatte, öffnete sich die Etagentür zwei Stockwerke über ihr mit einem lauten Knall.
Eine laut fluchende Männerstimme war zu hören, dann schnelle Schritte, die sich auf die Treppe zu bewegten. Der Mann strauchelte, fing sich jedoch wieder und stürmte die Treppe hinab. Er schien jemanden zu suchen. Die Frau am Ende der Treppe verharrte für den Bruchteil einer Sekunde schreckerstarrt, dann ging sie weiter, beharrlich, ihren Blick auf die Tür gerichtet, die ins Foyer des Hotels führte. Der Mann schrie jetzt einen Frauennamen, immer näher kam er, bis er sie schließlich erreichte. Gerade als die Frau ihren Arm nach der Foyertür ausstrecken wollte, legte sich eine Hand hart auf ihre Schulter, ihr Körper wurde gedreht, so dass sie in das Gesicht des Mannes blickte. Seine Stimme war jetzt sanft geworden, er sprach leise auf die Frau ein, seine Hand jedoch umklammerte ihre Schulter so fest, dass sie jeden einzelnen Finger spürte und wusste, sie würde den Abdruck noch lange erkennen können. Draußen toste das Gewitter weiter. Die Augen der Frau füllten sich mit Tränen, sie stammelte flehende Worte, die der Mann nicht zu vernehmen schien. Mit einer einzigen Bewegung hob er die Frau auf seine Arme und trug sie die Treppe wieder hinauf.
Am nächsten Morgen berichteten die Nachrichten, dass der Sturm zu den schlimmsten gehört habe, die das Land jemals erlebt hatte. Viele Menschenleben hatte er eingefordert. Doch manche Menschen lebten einfach weiter wie zuvor.

Runde 1: Lockenwickler

Lockenwickler (qos)

Georg hielt sein Glas fest am Stiel umklammert, als er mit den Beinen den Stuhl leicht zurückschob und sich erhob. Die goldgelbe Flüssigkeit im Kelch warf noch kleine Luftbläschen nach oben, es war teurer französischer Champagner, irgendeine Marke, die sein Schwiegervater ausgesucht hatte und die im letzten Jahr zahlreiche Preise auf internationalen Wettbewerben gewonnen hatte.
Leise räusperte er sich, dann nahm er seinen Dessertlöffel hoch und schlug mit der Spitze sanft an sein Glas. Sofort verstummten die Gäste an seinem Tisch und richteten erwartungsvolle Blicke auf ihn und das Schweigen breitete sich von Tisch zu Tisch aus und erreichte schließlich auch die letzten geladenen Gäste. Georg ließ seinen Blick über die anwesenden Menschen in dem vornehmen Saal des Hotels schweifen. Sein Bruder hatte sich bereits etwas abseits an einen Tisch am anderen Ende des Raums gesetzt, um mit einem Arbeitskollegen ein paar geschäftliche Dinge besprechen zu können und warf ihm nun aufmunternde Blicke zu. Seine Mutter, die schräg gegenüber an seinem Tisch saß hüllte ihn in einen Blick zärtlicher Liebe ein, durch den ihm ganz warm ums Herz wurde. Und dort hinten, an einem Tisch in der Nähe des Saaleingangs… Georg spürte einen kurzen Stich, eine plötzliche Kälte, die seinen Körper durchströmte, fühlte, wie seine Hände kaum noch Gefühl hatten, wie sie anfingen, feucht zu werden und dann ergriff ihn dieses wohlbekannte Gefühl, dass er vielleicht das Glas nicht weiter würde halten können. Er wusste, Gläser zu halten, die einen feinen Stiel hatten, war etwas automatisiert-mechanisches, er spürte den Stiel nicht zwischen seinen Fingern und dieses Nicht-Spüren sandte den irrwitzigen Gedanken an sein Gehirn – oder sandte das Gehirn den Gedanken nicht eher an seinen Körper? – dass er das Glas vielleicht gar nicht hielt. Sobald er damit angefangen hatte, über ein Glas nachzudenken, wurde es schwer, es weiter zu halten. Georg spürte den prüfenden Blick, den die Frau an seiner Seite auf ihn richtete – jene Frau, die er heute geheiratet hatte - und begann mit seiner Rede.

Dort hinten an einem Tisch in der Nähe des Saaleingangs saß eine andere Frau. Als Georg seine Rede begann, sah sie kurz zu Boden, heftete ihre Aufmerksamkeit für einige Sekunden auf einen nicht weiter zu erkennenden Gegenstand, dann erhob sich ihr Kopf in einer fließenden Bewegung, sie zog die Schultern leicht hoch, straffte sie, ihr Kopf fiel in den Nacken, so saß sie da, mit vor der Brust verschränkten Armen, leicht nach hinten gelehnt, der ganze Körper. Auch wenn Georg stand, hatte er das Gefühl, sie blicke nun auf ihn herab aus leicht spöttischen Augen. Ein jäher Schmerz durchfuhr ihn, sie strahlte etwas Verletzliches aus, wie sie da saß und versuchte, Haltung zu bewahren, nicht den anderen, sondern ihm gegenüber, so steif und stolz und schön wie sie nun mit starrem Blick seiner Rede lauschte. Und plötzlich sah er sie, wie er sie an jenem Morgen gesehen hatte.
Georg hatte darauf bestanden, die Nacht vor seiner Hochzeit alleine zu verbringen, in jenem kleinen Gasthaus, in dem er schon seit Jahren ab und an ein paar Nächte verbrachte, wenn die Welt um ihn herum ihm zu hektisch wurde. Idyllisch lag der kleine Hof, dessen Besitzer auch Zimmer vermieteten, an einem See, gesäumt von Wäldern und Koppeln, auf denen Tiere weideten. Das Unterfangen war nicht schwierig durchzusetzen gewesen, seine Frau verbrachte die Nacht im Haus ihrer Eltern und bis auf einige wenige Gäste, die aus dem Ausland angereist waren und in eben jenem Hotel Unterkunft fanden, in dem er nun seine Rede hielt, kamen die Gäste erst zu der kirchlichen Zeremonie, die diesen Nachmittag statt gefunden hatte.

Mit den engsten Freunden hatten sie gestern noch zusammen gesessen und waren dann, noch vor Mitternacht, aufgebrochen. Seine Frau hatte ihn zum Abschied geküsst und ihm mit einem Kichern ins Ohr geflüstert, sie hoffe, die Stille am See erinnere ihn nicht daran, wie schön es war, alleine zu sein. Dann hatten sich ihre Wege getrennt und er hatte sich anerboten, Clara nach Hause zu fahren. Und nun, da sie dort hinten an diesem Tisch saß, sah er sie, wie er sie heute Morgen gesehen hatte, als er von ihr fort ging, um eine andere Frau zu heiraten. Sie hatte an den Küchentisch gelehnt gestanden, eine heiße Tasse Kaffee mit den Händen umschlossen, die Haare aufgedreht auf Lockenwickler. Georg hatte ihr beim Aufdrehen geholfen. Sie hatte nackt vor ihm auf dem Bett gesessen und ihr langes Haar, das ihn an Bronze erinnerte, an oxydierte Bronze, wie er gedacht hatte, als er hinter ihr saß, fiel über ihren Rücken. Strähne um Strähne teilte er ab, nahm einen der großen, grauen Lockenwicklern, die an den Rändern in pink eingefasst waren, wickelte die Strähne sorgfältig darauf und fixierte den Wickler dann am Kopf mit einem kleinen Pin. Leise Musik kam aus dem Radio und er genoss das Unwirkliche der Situation. Keiner von beiden sprach. Dann, als er fertig war, strich er sanft mit den Fingerspitzen über ihren Rücken, aber sie reagierte nicht, gab kein Zeichen, das erkennen ließ, dass sie seine Anwesenheit überhaupt noch wahrnahm. Er stand auf und ging um das Bett herum, bis er vor ihr stand. Mit einem hilflosen Achselzucken wich sie seinem Blick aus und sah zur Decke, Tränen strömten ihre Wangen hinab, ganze Sturzbäche von Tränen, aber kein Geräusch drang aus ihrem Mund, es war eine stille Klage, eine Anklage vielleicht? Aber dann erreichte schon ein Lächeln ihren Mund, sie wischte die Tränen fort und suchte seine Augen, er kniete vor ihr nieder und begrub seinen Kopf an ihrem Hals, die Lockenwickler verfingen sich in seinen eigenen Haaren.

Er sah sie jetzt, während er seine Rede hielt, wie sie in der Küche stand mit ihren Lockenwicklern und mit kalt-klirrender Stimme „Auf Wiedersehen“ sagte und dann, angesichts der Situation, über ihre eigenen Worte lachte, ein unvertrautes Lachen, das hart klang. Er sah sie, wie sie mit diesen riesigen Lockenwicklern auf dem Bett saß, wie die Tränen aus ihre herausschossen und Hilflosigkeit erfasste ihn.

Er war nie in seinem Gästehaus angekommen. Auf halber Strecke wohnte sie, er hatte sie nach Hause gefahren, war ausgestiegen, um ihr die Tür zu öffnen, sie hatten eine Zeit lang am Wagen gelehnt und sich angesehen, sie hatte diesen abwartend-spöttischen Blick gehabt, den er auch eben an ihr wahrgenommen hatte und dann hatte er zu ihr gesagt, sie solle ihn mit hinein nehmen. Ohne ein weiteres Wort hatte sie sich umgewandt, war zur Haustür gegangen, hatte aufgeschlossen und war ins Haus getreten, dann sah sie kurz über ihre Schulter: Er folgte ihr.

Sie schüttete zwei Gläser randvoll mit Martini und reichte ihm eines. „Glaubst du, du kannst es halten?“, fragte sie lachend und er stellte sein Glas ab, zog sie an sich und küsste sie. „Warum heiratest du nicht mich?“, neckte sie sanft an seinem Ohr, aber er ließ sie los, wandte sich ab, nahm sein Glas und trank. Ihre Stimme klang verändert, als sie erneut sprach. „Geh, Georg, du musst gehen.“ Es lag keine Koketterie in diesem Satz, nur Resignation und Müdigkeit. Aber er ging nicht. Er zog sie erneut an sich, nahm ihr Gesicht in seine Hände und sagte: „Ich heirate dich nicht, Clara, weil du meine Schwester bist.“

Er hatte seine Rede beendet, die Gäste applaudierten, er setzte sich wieder und seine Frau griff nach seiner Hand. Im Hinsetzen hatte er seiner Schwester Clara einen Blick zugeworfen, das Licht brach sich in ihrem Haar, der bronzefarbene Schimmer verstärkte sich dadurch, dass sie heute Locken trug. Er zwang sich, nicht mehr an die Lockenwickler zu denken, die er selbst in ihren Haaren befestigt hatte, heute Morgen. „Der See hat mich daran erinnert, wie gerne ich nicht mehr allein wäre“, sagte er zu seiner Frau, die neben ihm saß und lächelte sie an.